Veränderung braucht Entschleunigung und Achtsamkeit – ein Paradoxon?
9. Juni 2022

Unser (Selbst-)Wert hängt stark davon ab, als wie leistungsfähig wir uns wahrnehmen und wahrgenommen werden. Wer möchte nicht zu den High Performer*innen gehören? Welche Führungskraft wünscht sich keine Mitarbeiter*innen im Team, die einfach alles anpacken, umsetzen und zum Erfolg führen?

Was genau bedeutet Leistungsorientierung?

Im Clifton StrengthsFinder by Gallup heißt es: „Menschen mit einer stark ausgeprägten Leistungsorientierung sind in der Lage, ausdauernd zu arbeiten, und verfügen über Durchhaltevermögen. Produktives Handeln sorgt bei ihnen für immense Befriedigung.“

Durchhaltevermögen und Befriedigung durch produktives Handeln: Das klingt zunächst sehr positiv und wie etwas, womit man sehr gut leben kann. Aber das Bild ist nicht vollständig. Denn Leistung allein reicht uns Leistungsorientierten nicht. Wir wollen unsere Leistungsfähigkeit immer wieder neu unter Beweis stellen, wir wollen Höchstleistung bringen, wir wollen „noch besser“ sein. Aber was oder wer ist eigentlich der Maßstab für „noch besser“?

Der leistungsorientierte Teil in dir: Kennst du den auch?

Für den leistungsorientierten Anteil gibt es viele Namen: die Erfolgsorientierte, der Leistungserbringer, der Extremist, die Getriebene, der Marathonläufer, die High-Flyerin …

Wie nennt ihr diesen Teil in euch?

Der leistungsorientierte Anteil hat ganz viele positive Eigenschaften. Er zeigt Ausdauer und Zielorientierung, liebt Herausforderungen und begeistert sich für neue Ideen und Projekte. Der Leistungs-Teil in uns denkt, dass alles machbar ist. Er kann richtig was wuppen. Er handelt und argumentiert sehr sachorientiert und muss sich so nicht mit Emotionen aufhalten.

Dieser leistungsorientierte Teil ist selten zufrieden mit einem Ergebnis. Wenn doch, dann ist er oft nur für einen kurzen Moment happy, bevor er seine Aufmerksamkeit der nächsten Herausforderung zuwendet. Selbst am Wochenende, wenn eigentlich Zeit für Entspannung und Muße ist, fällt es dem leistungsorientierten Teil schwer abzuschalten. Er packt sich die Freizeit mit spannenden Aktivitäten voll oder checkt mal eben schnell die Job- Mails, damit die nicht zwei lange Tage in der Inbox auf eine Antwort warten. Bloß kein Stillstand. Davor hat er echt Angst.

Meine Erfolgsorientierte und ich.

Meine Erfolgsorientierte saß und sitzt mir teilweise immer noch auf der einen Schulter und verfolgt genau, was ich und andere abliefern. Am liebsten saß sie mir auf beiden Schultern, um mir in Stereo zuzuflüstern: Echt jetzt? Das soll reichen? Oder sie säte Zweifel: Ist das wirklich gut genug? Geht das nicht doch noch besser? Und schneller?

Selbst wenn ich versuchte wegzuhören, ließ sie nicht nach. Sie verrenkte sich so lange, bis sie mir wieder direkt ins Ohr säuseln konnte: „Ach komm schon, mach weiter, du langweilst dich doch sonst nur. Nimm diesen Erfolg auch noch mit. Du kannst das doch so gut.“

Wisst ihr, was ihre schlimmste Eigenschaft war? Wenn sie bei mir nicht weiterkam, schreckte sie nicht davor zurück, meine Teammitglieder anzugreifen. Dann sagte sie Dinge wie: „Damit bist du wirklich zufrieden?“ Oder: „Ja, ist gut, aber was kommt als Nächstes? Willst du dich nicht weiterentwickeln?“  Echt mies.

Aus welchen Situationen kennt ihr eure Leistungs-Anteile?

Ihr merkt, ich schreibe in der Vergangenheit. Mittlerweile kenne ich meine High-Performerin ganz gut, weiß wie sie tickt und kann sie steuern. Ich freu mich richtig, wenn ich ihr z.B. in Coaching-Sessions mit sehr leistungsorientierten Klienten begegne. Früher wäre sie mit den Klienten mitgerannt und hätte sie am liebsten noch angefeuert. Heute ist sie meistens ziemlich gechillt, beobachtet und lässt sich gerne sagen „entspannt dich, alles okay, dein nächster Einsatz wird schon kommen.“

Das Tolle dabei ist: Meine High-Performerin ist noch da. Wenn ich sie wirklich brauche, kann ich mich immer auf sie verlassen.

Weiter oben habe ich gefragt, wie ihr euren Leistungs-Anteil nennt. Aus welchen Situationen kennt ihr diesen Anteil? Und wie erlebt ihr diese Situationen? Wie fühlt ihr euch, wenn ihr eure*n innere*n Leistungsträger*in spürt? Mega? Cool? Nur „irgendwie cool“? Oder fragt ihr euch: WARUM treibe ich mich selbst so an? Wie komme ich da raus? Wie kriege ich mich geSTOPPT oder verlangsamt?

Mit wie vielen Bällen wollen wir jonglieren?

Ich bin da echt ambivalent. Rational weiß ich, dass bei zu vielen Bälle in der Luft irgendwann etwas runterfällt. Das ist wie beim Jonglieren. Das Kinderlexikon schreibt, dass geübte Jongleure mit fünf oder mehr Bällen jonglieren können. Damit das funktioniert, muss man immer höher und schneller werfen können. Dadurch wird es schwieriger, die Bälle wieder aufzufangen. Der Rekord liegt bei vierzehn Bällen. https://klexikon.zum.de/wiki/Jonglieren

Jedes Kind weiß, dass es mit jedem Ball, der hinzukommt, immer schwieriger wird, sie alle zu fangen und gekonnt zu werfen. Aber das ist nicht alles: Wir nehmen die Bälle auch nicht mehr richtig wahr, wir erleben sie nicht mehr. Wir können kaum noch sagen, welche Farbe oder Größe die Bälle haben, wie sie sich anfühlen … geschweige denn, was wir selbst eigentlich gerade fühlen. Wir performen nur noch, strengen uns richtig an, alle Bälle in der Luft zu halten. Klar, rational weiß ich das alles, und ihr bestimmt auch. Dieses Wissen dringt nur manchmal nicht richtig durch.

Was kannst du also tun? Innehalten und verlangsamen. Verlangsamen?

Verlangsamung und weniger Leistungsorientierung: Es ist ein Prozess.

Innehalten und verlangsamen klappt nicht einfach auf Knopfdruck. Ich empfehle deshalb tägliche Check-Ins oder Listen für die folgenden Fragen.

1.   Überlegen und bewusst machen: Wo stehst du gerade? Wie viele Bälle, also Aufgaben, hältst du gerade in der Luft? Welche davon sind dir eigentlich zu viel?

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  • Innehalten und verlangsamen: Wie würde es sich anfühlen, jetzt einen der Bälle, eine Aufgabe beiseite zu legen?
  • Hineinspüren, vielleicht mit geschlossenen Augen: Was spürst du, wenn du einen der Bälle, eine Aufgabe, einen Gedanken fallen und davonkullern ließest?
  • Fühlt sich die Vorstellung irgendwie beunruhigend an? Dann spüre genau hinein und überlege: Was ist das Schlimmste, das passieren könnte?
  • Ersetze einen Ball durch eine kleine Auszeit.
    Die Auszeit ist am Anfang vielleicht nur drei oder vier Minuten lang.  So lang wie eine Atemübung, ein paar geworfene Basketballkörbe, die Länge deines Lieblingssongs oder ein kleiner Spaziergang. Dir fällt bestimmt was ein.
  • Erlebe bewusst, wie sich die „gewonnene“ Zeit beim Spaziergang oder der von dir gewählten Aktivität anfühlt.
    Welche positiven Gefühle bemerkst du? Schreib deine Gefühle gerne auf oder skizziere sie.
  • Schau mal hin: Was hat der leistungsorientierte Teil in dir während des Spaziergangs gemacht?
  • Freu dich darüber, dass du deine*n  Performer*in mit auf den Spaziergang nehmen konntest.
  • Verlangsamen und überlegen: Wovor hast du wirklich Angst, wenn du nicht leistest oder performst?
  • Bewusstwerden: Nimm diese Gedanken einfach mal so mit.

Gedankenexperiment.

Zum Schluss ein kleines Gedankenspiel. Stell dir vor, du sitzt auf dem Rasen vor einem Jongleur – als Erwachsene*r oder als Kind. Du schaust den bunten Bällen nach, die mit einem Wahnsinnstempo durch die Luft fliegen. Was ein Spaß, welche Aufregung! Du bist gespannt, fragst dich, ob noch ein weiterer Ball geht. Du zitterst jedes Mal mit, wenn der Jongleur noch einen weiteren Ball in die Luft wirft. Plötzlich passiert es. Ein Ball verlässt die Flugbahn und alle Bälle kommen ins Straucheln. Auf dich regnet ein bunter Bälle-Regen herunter. Was fühlst du?

Überraschung und einen Schreck? – Ja, bestimmt.

Erleichterung? – Wahrscheinlich, denn deine Anspannung lässt nach und du entspannst dich.

Was spürst du noch? – Ausgelassenheit, Spaß und Freude über die vielen bunten Bälle, die um dich herum im Gras liegen. Ist doch gar nicht so schlimm.

Du willst deinen leistungsorientierten Teil besser kennen und verstehen lernen und herausfinden, woher er kommt? Lass uns einen Termin für ein Coaching ausmachen. Link auf Coachingseite

Du machts dir Sorgen, um eine*n Freund*in, deine*n Partner*in, weil er*sie nur noch leisten kann und immer schneller jongliert? Dann teile den Artikel gerne.